St.BARBARA


Verweile im Augenblick der Verzweiflung,
erlebe Gesichter der Leere –
Starre, ohne Hauch der Verwandlung.
Kalt, weiß –
Die tägliche Nacht
und der nachtähnliche Tag.
Verwest sind Wünsche,
die nie im Licht geboren.
Und doch auch Gesichter
Die ahnen lassen - Freude
Rufe ausstoßen,
wenn still eine Hand sie berührt.
Wer wünscht schon
In ewiger Nacht zu wandeln,
vergessen zu sein zwischen
Stein und Glas.
So werde ich durchschreiten den Gang –
Von Tür zu Tür.

Mein lieber Freund!



„Bitte vergessen Sie uns nicht!“

Das waren Deine letzten Worte an mich. Wie könnte ich sie jemals vergessen und wie könnte ich Euch jemals vergessen, deren Worte und Blicke tief in meiner Seele eingebrannt sind. Bei Euch und natürlich besonders durch Dich, fand ich etwas in mir, das bisher unbekannt und doch erahnt und herbeigesehnt wurde. Ihr, so krank und hilflos ihr auch seid, ihr habt mir geholfen – und das ist vielleicht beschämend.

Doch wenn ich weiter darüber nachdenke, wiederum auch etwas sehr wunderbares. Der Mensch sollte lernen, alles Trennende zu verwandeln, oder – was noch besser wäre – beginnen es zu vereinen. Die Einheit wieder herstellen, das ist es, was den Menschen auszeichnen sollte, ihn überhaupt zum Mensch – Sein - werden lässt. Das Trennende war bei uns, sich dem Elend, dem Gebrechen zu stellen, ihm zu begegnen. Und so kam ich zu Euch als ein unbekannter Mensch, der eigentlich einfach nur „Dasein“ wollte, ganz ohne Zweck, ohne eine Aufgabe auszuüben. Nur, einfach dieser tiefen Sehnsucht zu folgen und plötzlich an einem Krankenbett in ein Gesicht zu blicken, das Freude widerspiegelte. So einfach dies auch klingen mag, doch es ist so. Dort, wo wahrhaft Freude entsteht, ist Einheit wieder herbei geführt. Denn jeder Mensch, wie immer wir ihn auch erleben auf unserer Erdenwanderung, er möchte glücklich sein, sehnt sich danach. Wobei er es finden möchte, wie er es erreichen will und wodurch – all das wird wohl verschieden ausschauen. Doch in allem liegt das gleiche Sehnen verborgen, eben das nach Freude.Und wenn ich Euch davon nur ein wenig geben konnte, so sollst Du wissen, ihr habt mir um vieles mehr gegeben.



Mein lieber Freund, ich sah wenn Ihr unter Mühen die Hände zum Gebet zusammenlegtet. Darin war die ewige Wahrheit verborgen, mehr als in jedem gedankenlosen Gebet, das dahin gesprochen wird. Tränen lösten sich in mir und doch war ich im selben Moment voller Freude, bei diesem Akt unendlicher Liebe. Einer Liebe, die jeder Mensch in sich trägt. So oft brach sie aus Euch hervor, wenn Ihr all das neue, das man Euch zeigte, mit unberührten Blicken betrachten konntet. Welches Staunen über all die Dinge der Schöpfung. Ein Erstaunen, welches ich selber schon vergessen hatte. Welches wir Menschen „ der dauernden Betriebsamkeit“, jeden Tag verschütten mit unnötiger Hast und Eile. Durch Euch erlebte ich so vieles wieder neu und wahrhaftiger kennen.Wohin mich auch mein Weg führen wird, er wird geprägt sein von den Stunden, die ich bei Euch sein konnte. Wohin mich eine schützende Hand führte und mir dazu die Kraft gegeben hat. Ihr zeigtet mir, wo der Weg liegen kann, der betreten werden muss, um das Rad des Lebens zum Stillstand zu bringen.Es wird wohl so sein, dass darin die ewige Frage unseres menschlichen Lebens liegt: sich selber aufzugeben und fallen lassen in die ewige Liebe. Vielleicht wird mir dazu einst die Kraft gegeben.

Mein lieber Freund, dieser Brief wird Dich sicher nie erreichen, der Inhalt unbekannt bleiben, mag sein, dass du ihn nicht ganz verstehen könntest. Doch all das ist nicht so wichtig. Alle diese Gedanken werden auf anderen Wegen zu Dir kommen und Dich beschützen. Was bleibt, ist die Erinnerung, die nicht in der Vergangenheit unserer Zeitlichkeit versinken darf und es auch nicht wird. Sie wird den Wunsch „ bitte vergessen Sie uns nicht“, in die stete Gegenwart meines Lebens rufen.



Frank Michael Weber
( Geschrieben im Juni 1972)

Veröffentlicht in der Anthologie HEIMAT / Bläschke Verlag – St. Michael 1980